Die Antwort auf diese Frage suchten wir (Vertreter der Bürgervereinigung Leben ohne Barrieren von Nová Paka) bei unserer ersten Studienreise in die Schweiz vom 20. bis 24. März 2012. Diese Reise wurde im Rahmen des Sub-Projektes “Austausch von Erfahrungen und guter Praxis im Bereich des integrierten Zugangs zu Betreuung von Körperbehinderten für Erhöhung ihrer Lebensqualität“ unternommen. Das Projekt wird von dem Partnerschaftsfonds, dem Programm Scheweizerisch-tschechische Zusammenargeit, finanziert.
Das Programm der Studienreise wurde von unserer Partnerorganisation Handicap Architecture Urbanisme vorbereitet - http://www.hau-ge.ch/. Zu unserer Begleiterin wurde Frau Silvia Heizmann, Architektin, die sich auf Behindertengerechtes Bauen spezialisiert.
Während der Reise suchten wir nach neuen Kenntnissen, Erfahrungen, Ideen und Themen in folgenden Bereichen: Behindertengerechtes Bauen, Lebensstil der Behinderten und Mobilitätdienste für Menschen mit Handicap in der Schweiz.
In der Stadt Basel sahen wir uns das historische Rathausgebäude an, das zu den Stadtsehenswürdigkeiten gehört. Ein Rollstuhlfahrer kann sich in dem ganzen Gebäude ganz frei bewegen. Wir konnten selbst am Gebäudeeingang die Rollstuhlfahrerrampe erproben und innerhalb des Gebäudes benutzten wir barrierefreie Aufzüge und Büroeingänge. In dem ganzen historischen Stadtviertel Basels sind Eingänge zu allen Geschäften, Restaurants, Banken, kulturellen Einrichtungen und Postfilialen barrierefrei. Wir haben auch eine Grundschule besucht, in der es zwar zurzeit kein Kind mit Handicap gibt, die ist aber für eine solche Situation gesetzlich vorbereitet. In der Schule gibt es barrierefreie Aufzüge sowie Sozialeinrichtungen, und alle Stufen und Hindernisse sind deutlich gekennzeichnet. Kurz gesagt, auf alle behindertengerechten Maßnahmen wird ein großer Wert gelegt.
Bereits am ersten Tag hatten wir eine Gelegenheit zu erleben, wie das Service für die Behinderten in der Schweiz funktioniert. Einem Reiseteilnehmer brach ein Rad von seinem elektrischen Rollstuhl ab. Binnen einigen Minuten sind wir in einem Geschäft mit Hilfsmitteln für Behinderte angekommen, wo auch der Service von verschiedensten Hilfsmitteln den Kunden zur Verfügung steht. Die ganze Reparatur verlief schnell und der Rollstuhl wurde in einer Stunde wieder betriebsfähig.
Unsere letzte Station in Basel war das Zentrum für sehbehinderte Menschen. Das Zentrum war unter Verwendung von den in Tschechien noch nicht gebrauchten Spitzentechnologien aufgebaut.
Von den zwei Tagen in Basel waren wir stark beeindruckt; ein Rollstuhlfahrer hat überhaupt keine Probleme bei seiner Bewegung in der Stadt, sei es mit barrierefreien Straßenbahnen oder auf den Straßen mit dem Rollstuhl selbst.
Der zweitägige Besuch der Stadt Zürich und Umgebung wurde für uns alle ebenfalls zu einem unvergesslichen Erlebnis. Am ersten Tag wurden wir von Herrn Joe Manser, dem Berater für barrierefreies Bauen der Stadt Zürich, begleitet. Er hat uns ein Wohnhaus für sozial Schwache und Behinderte gezeigt. Das ganze Haus wurde auf behindertengerechte Weise aufgebaut und eingerichtet. Die Hausbewohner leisten sich gegenseitig Hilfe. Später erprobten wir die Rollstuhlfahrerrampe am Rathauseingang und besuchten das alte Stadtviertel, wo wir uns barrierefreie Geschäftseingänge ansahen.
Am zweiten Tag machten wir uns auf den Weg nach Schaffhausen. Dort besuchten wir einen Komplex von Einrichtungen für Schwerbehinderte. Einige von architektonischen Lösungen haben uns sehr beeindruckt und wir haben es vor, sie bei der nun vorbereiteten Rekonstruktion des ehemaligen Klosterhauptgebäudes in Nová Paka anzuwenden. In dem Schaffhausener Komplex wurden wir von einer jungen Frau begleitet, die sehr schwer behindert war und für alle Handlungen in dem Objekt das Gerät „James“ benutzt. Dieses Gerät kontrolliert das automatische Öffnen und Schließen der Türen und Raumbeleuchtung, es kann als ein Telefon sowie als eine PC Bedienung genutzt werden und man kann mit diesem Gerät Assistenz herbeirufen. Trotz ihrer schweren Behinderung organisiert die Leiterin des Zentrums kulturelle Veranstaltungen, Besuche von Theater und Kinos und andere Freizeitaktivitäten für 22 ähnlich behinderte Klienten. An der Besichtigung des Komplexes nahm auch die Architektin Catherine Leu teil, die das ganze Objekt projiziert hatte. Sie hat bei dem Projekt auf alle behindertengerechte Details geachtet, wie z. B.: große Klinken, einfaches Türöffnen , geräumige für Rollstuhlfahrer angepasste Räume, Aufzug mit genug Platz für zwei Rollstuhlfahrer, der mit einem Fenster ausgestattet ist, so dass in Fall einer Panne die Aufzugbenutzer nicht unter Stress leiden, usw..
Die nächste Station machten wir in Stein am Rhein, wo wir einen Komplex von altertümlichen, mehrstöckigen Gebäuden besichtigten, die nach einem behindertengerechten Projekt von Architektin Johanna Reutemann rekonstruiert wurden. Und dann geschah etwas ganz Unerwartetes. Wir sind mit einem Aufzug bis auf die Zinne der Burg Hohenklingen vom 12. Jahrhundert gekommen und dort konnten wir die wunderschöne Aussicht auf die ganze Stadt von einer direkt auf den Burgmauern situierten Terrasse genießen. Ein solches Erlebnis ist für viele Rollstuhlfahrer aus Tschechien einfach ein Traum.
Nach dem Besuch von der Burg Hohenklingen fuhren wir in den Komplex des Kartäuser Klosters in Ittingen. Es war schon immer unsere Vision in den Objekten des ehemaligen Paulaner Klosters in Nová Paka ein Zentrum zu errichten, in dem die Behinderten zusammen mit den Menschen ohne Behinderung alle nötigen Sozialdienste finden könnten. Im Kartäuser Kloster konnten wir uns über Existenz von einem solchen Zentrum überzeugen. In dem Klosterkomplex, in dem einst Mönche lebten und auf der Fläche von 60 Hektaren wirtschafteten, befindet sich heute ein Sozialzentrum für Geisteskranke. In dem Gebäude des ehemaligen Klosters wurde ein Museum errichtet und in den rekonstruierten Nebenobjekte gibt es ein Restaurant, ein Hotel, Pferdeställe und ein Geschäft mit Produkten der Betreuten Werkstätten (Metallwerkstatt, Käserei, Tischlerei, u.a.). Die umliegenden Grundstücke werden bewirtschaftet. Weinrebe, Kräuter, Gewürze und Blumen werden von den Klienten angebaut. Alle Früchte der Landwirtschaft werden verarbeitet und zusammen mit anderen Produkten der Betreuten Werkstätten im eigenen Geschäft verkauft und in andere Geschäfte distribuiert. Bei unserem Besuch haben wir uns über die Barrierefreiheit des ganzen Komplexes überzeugt. Alle Aktivitäten sind perfekt organisiert, überall herrscht Ordnung aber auch Ruhe und Frieden. Dieser Komplex wurde für uns ein Beispiel dafür, wie ein Sozialzentrum finanziell selbständig funktionieren kann.
Im Klartext, der schweizerische System der Sozialdienste für Behinderte und Kranke wurde für uns zu einem Vorbild. Wir sind uns dessen bewusst, dass es viele Sachen bei uns gibt, die zu verbessern sind. Die Lebensqualität der Behinderten und Kranken ist vor allem von gesellschaftlicher Mentalität, Hilfsbereitschaft, Toleranz, gefühlvoller Behandlung von den Behinderten und nicht zuletzt von der Kunst des Zuhörens geprägt. Alle diese Bedingungen können geschaffen werden und unser Sozialsystem kann dadurch dem Schweizerischen genährt werden.
Aufgrund der ausgetauschten Erfahrungen und guten Praxis im Bereich des integrierten Zugangs zu Betreuung von Behinderten werden wir jetzt unsere Situation analysieren und neue Maßnahmen präsentieren, die die Lebensqualität der Behinderten erhöhen sollten, vor allem in den Lebenssphären, in denen sie am meisten diskriminier sind. Diese Maßnahmen sollten zu dem Abbau von Unterschieden zwischen der Schweiz und Tschechien führen.
Wir möchten uns bei Frau Silvia Heinzmann für perfekte Vorbereitung und Organisation unserer ersten Studienreise bedanken.
Die Region Königgrätz und die Stadt Nová Paka haben dieses Projekt finanziell unterstützt.